Die Schlattwaldeiche: Der Star im Schlattwald

Ernst Basler:
Die geheimnisvolle Eiche

Meine Jugendzeit verbrachte ich in Thalheim. Die Zeiten damals waren dürftig: In den 1930er Jahren litten wir zuerst unter der grossen Rezession, so dass ich als Kind kaum wusste, wie Geld aussah. Dann ging jene karge Zeit nahtlos über in die entbehrungsreichen Jahre des Zweiten Weltkrieges. So war es für uns Kinder selbstverständlich, dass wir in unserer schulfreien Zeit im Hof und auf dem Feld mitarbeiten mussten, soweit dies in unseren Kräften lag.

Nur am Sonntagnachmittag gab es ein paar freie Stunden, in denen wir tun und lassen konnten, was immer uns gefiel. Die etwa gleichaltrigen Buben trafen sich in der Regel beim Zehntenbrunnen neben der Kirche, und hier wurde beratschlagt, was und wo wir spielen wollten. Wenn jemand zufälligerweise einen halbwegs intakten Ball mitgebracht hatte, was eher selten der Fall war, dann gab es weiter nichts mehr zu entscheiden: Ein Ballspiel war angesagt.
Aber womit beschäftigten sich die rund ein Dutzend Primarschüler an Nachmittagen, an denen kein Spielzeug vorhanden war und man von Versteckspielen genug hatte? In solchen Situationen konnte es recht lange dauern, bis ein Vorschlag auf allgemeine Zustimmung traf. So war es auch an einem regnerischen Sonntag, bis jemand eine noch nie gehörte Idee einwarf: «Wir könnten die grosse Schlattwald-Eiche suchen.» Der Votant behauptete, es gäbe im Schlattwald einen Baum, der grösser und älter sei als alle anderen. Sein Vater habe das gesagt, und dieser habe den Riesen auch schon selbst gesehen. Das war etwas Neues, und die Idee fand spontan Zustimmung. Wir rannten alle unserem Anführer nach Richtung Schlattholz. Beim Fuchsbrüggli überquerten wir den Huebbach, und dann ging es mehr oder weniger in Einerkolonne in den Wald hinein. Die Suche war so unplanmässig wie vergeblich. Nirgends konnten wir den geheimnisvollen Baum entdecken, so dass wir schliesslich durchnässt und enttäuscht ins Dorf zurückkehrten.

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Dorfkinder beim Zehntenbrunnen in Thalheim, ca. 1939

Es war vielleicht ein Jahr vergangen, als ein anderer Schüler behauptete, ganz sicher zu sein, dass es eine Riesen-Eiche im Schlattholz gäbe, er wisse auch ungefähr wo. Um sie zu finden, müssten wir den Wald wie Jäger durchkämmen: in grösseren Abständen neben- und nicht hintereinander! Diesmal hatten wir Erfolg und entsprechend viel zu erzählen nach unserer Heimkehr. Und je länger wir über unsere Entdeckung berichteten, umso grösser wurde der Baum in unserer Vorstellung.

Jahrzehnte später suchte ich als Spaziergänger die majestätische Eiche öfter auf. Mit nur wenigen Übertreibungen, aber viel Geheimnistuerei konnte ich dann auch meine Kinder und Enkel immer wieder aufs Neue begeistern, zum sagenumwobenen Riesen aufzubrechen. Ich kannte die nähere Umgebung mit der Zeit so gut, dass ich mir erlauben konnte, den Suchweg je nach Alter meiner Begleiter so zu verlängern oder zu verkürzen, dass der Baum just dann entdeckt wurde, wenn die Spannung am höchsten war und in Enttäuschung umzuschlagen drohte.

Je älter die Kinder wurden, desto mehr weiteten sich die Gespräche auf unseren Waldspaziergängen aus. Die Bedeutung des Waldes stieg mit jeder neuen Erkenntnis: Der Wald beheimatet viele unserer Tier- und Pflanzenarten, er schützt die Menschen in den Bergen vor Lawinen, reinigt unsere Luft, produziert den lebenswichtigen Sauerstoff und hortet in der Tiefe sauberes Wasser. Er bietet Raum für Erholung und liefert Holz für Bauten, Einrichtungen und Möbel. Jahrhundertelang diente Holz zum Kochen und als Wärmespender, heute werden viele öffentliche Gebäude mit Holzschnitzeln geheizt. Mein Appell an die nächste Generation: Geniesst diese reichhaltige Natur und seid dem Schöpfer dankbar für dieses kostbare Gut!

Dieser Appell genügt meines Erachtens heute nicht mehr. Mehr denn je müssen wir Sorge zu unseren Wäldern tragen. Es wird uns allmählich bewusst, welche Bedeutung die grössten Waldgebiete, die Tropenwälder, als «Lunge» der Erde haben. Früher wurden einzelne Bäume mit der Axt gefällt, heute geschieht dies hundertmal schneller mit der Benzinkettensäge. Diese rasante Abholzung hat grosse Auswirkungen auf die Biosphäre, also unseren Lebensraum auf dem «Raumschiff Erde». Dieses Raumschiff wird auch in Zukunft nicht grösser. Andererseits nimmt der Flächenverbrauch für Siedlungen, Gewerbe oder Verkehr mit immer grösseren Schritten zu. In den landwirtschaftlich genutzten Gebieten belasten Dünger und Stickstoff die Böden. Selbst Meere werden durch Abfallstoffe und Klimaveränderungen beeinträchtigt.

Wie ein Wald zu bewirtschaften ist, damit er für alle Zeiten jedes Jahr einen genügenden Holzertrag abwirft, haben uns schon früh die Förster gelehrt. Diese Nutzungsart – dem Wald nur so viel wegnehmen, wie nachwachsen kann – bezeichnet man als «nachhaltige Bewirtschaftung». Von diesem Begriff kommt auch die seit einigen Jahrzehnten gebräuchliche Bezeichnung für eine zukunftsgerechte Nutzung des Planeten Erde: die «nachhaltige Entwicklung». Ihr Schülerinnen und Schüler könnt eure Ausbildung nutzen, um solche Prozesse immer besser zu verstehen und zu überblicken. Einsicht in die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung unserer zivilisatorischen Tätigkeiten ist eine Voraussetzung für haushälterisches, kluges Handeln. Je mehr Menschen ökologische Zusammenhänge kennen, umso wirkungsvoller sind ihre Beiträge zu einer «nachhaltigen Entwicklung».

Es waren solche Gedanken, die mich mit dem im Ort wohnhaften Oberförster Erich Oberholzer zusammenführten und die Idee reifen liessen, Projekt-Unterlagen für die Schule zu erarbeiten. Als die beiden Schulleitenden mit grossem Interesse an der Naturkunde, Frau Blatter in Thalheim und Herr Bächi in Altikon, freudig zustimmten, stand diesem Vorhaben nichts mehr im Wege. Dass der Forstingenieur dabei den grössten Beitrag leistete, lässt sich unschwer erraten.

Mit der Anregung zu diesem Schulprojekt möchte ich auch meine Dankbarkeit ausdrücken für die Kindheitserlebnisse im Thurtal, die meine Beziehungen zur Natur tief geprägt haben. Ebenso liegt mir daran, die heutige Jugend zu ermuntern, unsere Umwelt zu pflegen, zu schützen und zu lieben.

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