Ein mystischer Baum
Der grosse praktische Wert der Eiche im täglichen Leben hat bestimmt dazu beigetragen, dass ihr seit uralter Zeit auch geheimnisvolle Kräfte zugeschrieben werden.
Oft hielten in der Vergangenheit Könige unter Eichen Gericht. Dieser Baum, von dem man sagt, dass er den Blitz anzieht, sollte den Richtern helfen, das richtige Urteil zu fällen.
Wegen ihrer langen Lebensdauer und Stärke galt die Eiche in ganz Europa als Garant für Verträge. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts begaben sich Bewohner der Region Franche-Comté zur Marieneiche, wenn sie einen wichtigen Vertrag abschliessen wollten. Wer sich nicht an die Abmachung halte, so hiess es, werde vom Blitz erschlagen.
In vielen mittelalterlichen Sagen sind Helden mit einer Keule aus Eichenholz bewaffnet. Als Zeichen ihrer übermenschlichen Kraft reissen Riesen oft eine Eiche aus, um sie als Wanderstab zu benutzen. Auch Heilige haben manchmal einen Wanderstab aus Eichenholz, so z.B. der heilige Gangolf, ein Adliger aus dem Burgund. Überall, wo er seinen Eichenstab in die Erde steckte, entsprangen Quellen.
Meist sind die Eiche und ihr Laub als beschützender Baum dargestellt. So flüchten Schlangen, wenn man Eichenlaub auf sie streut. Um die Hühner vor dem Fuchs zu schützen, schlägt der Bauer in Mittelfranken 3 Eichenpfähle in den Garten; soweit der Schall der Schläge dringt, kann der Fuchs nicht eindringen. Im Kanton Schwyz empfiehlt im 17. Jahrhundert eine «kunst, alle zauberei und malefitz» aus dem Menschen zu treiben, ein Pflaster aus frischem Eichenlaub und andere Mittel.
In Disentis, wo heute das Kloster steht, wuchs einst eine Eiche, die heidnischen Göttern geweiht war. Als der Glaubensstifter Sigisbert die Axt ansetzt, schwingt ein Heide die Sense gegen den Mönch, um den Baum zu retten. Die Arme des Heiden erstarren jedoch, und als die Eiche gefällt ist, muss Sigisbert den Heiden betend aus der Erstarrung lösen.